LiMux: Eine Odyssee durch digitale Gewässer

Majestic aerial view of Munich's Marienplatz and Frauenkirche showcasing historic architecture.

⚓️LiMux: Eine Odyssee durch digitale Gewässer

Wie München versuchte, die Segel in Richtung Open Source zu setzen – und warum die Reise anders verlief als geplant

Wer zur See fährt, weiß: Nicht jede Reise verläuft nach Plan. Manchmal ändern sich die Winde, manchmal muss man umkehren, und manchmal stellt man fest, dass das Ziel doch nicht das richtige war. Die Geschichte von LiMux – Münchens ambitioniertem Versuch, seine IT-Flotte von proprietärer Software auf Open Source umzustellen – ist eine solche maritime Metapher wert. Es ist die Geschichte eines mutigen Aufbruchs, stürmischer See und einer Kehrtwende, die bis heute Wellen schlägt.

🧭 Der Stapellauf: München sticht in See

Das Jahr 2003. In München, weit entfernt von den norddeutschen Hafenstädten, aber nicht minder entschlossen, begann eine Reise, die in der deutschen Verwaltungslandschaft einzigartig werden sollte. Der damalige Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) stand vor einem Problem, das vielen IT-Verantwortlichen bekannt vorkommen dürfte: Microsoft kündigte das Support-Ende für Windows NT 4.0 an. Die Stadt stand vor der Wahl: Entweder dem bekannten Kurs folgen und auf neuere Microsoft-Produkte umsteigen – oder einen eigenen Weg einschlagen.

Ude entschied sich für Letzteres. Wie ein Kapitän, der nicht mehr von einem einzigen Anbieter abhängig sein wollte, setzte er die Segel in Richtung Open Source. Das Projekt erhielt den Namen „LiMux“ – eine Wortspielerei aus Linux und München. Rund 15.000 Arbeitsplätze sollten von Windows auf Linux umgestellt werden, dazu kam der Wechsel von Microsoft Office auf OpenOffice (später LibreOffice).

Der Wind stand günstig. Die Idee der digitalen Souveränität – die Kontrolle über die eigene IT-Infrastruktur zurückzugewinnen – klang verlockend. Nicht mehr abhängig von den Launen eines Software-Giganten, nicht mehr gezwungen, jeden Upgrade-Zyklus mitzumachen. Die Freiheit der offenen See lockte.

Volle Fahrt voraus: Die ersten Jahre

Die Migration begann 2004. Wie bei jeder großen Schiffsexpedition gab es einen detaillierten Plan: Schritt für Schritt sollten die Arbeitsplätze umgestellt werden. Zunächst wurden die Anwendungen portiert, dann die Betriebssysteme gewechselt. Ein eigenes Team wurde zusammengestellt, das wie eine erfahrene Crew die technischen Herausforderungen meistern sollte.

Bis 2013 waren tatsächlich über 15.000 Arbeitsplätze auf LiMux umgestellt. Das war beachtlich – vergleichbar mit dem erfolgreichen Anlaufen eines weit entfernten Hafens. München wurde international beachtet, galt als Leuchtturmprojekt für Open Source in der öffentlichen Verwaltung. Delegationen aus aller Welt kamen nach Bayern, um zu sehen, wie es funktioniert.

Die Stadt berichtete von Einsparungen in Millionenhöhe. Keine Lizenzgebühren mehr für Tausende von Windows- und Office-Lizenzen. Die Crew war stolz auf das Erreichte.

Schwere See: Die Probleme türmen sich auf

Doch wie so oft auf hoher See, zeigten sich mit der Zeit die Tücken der Reise. Was von außen wie eine erfolgreiche Fahrt aussah, entpuppte sich im Inneren als zunehmend problematisch.

Da war zunächst die technische Realität: Die Stadt München betrieb nicht nur 15.000 LiMux-Clients, sondern parallel dazu noch über 10.000 Windows-Arbeitsplätze. Zwei parallele Systeme zu pflegen, ist wie zwei Schiffe gleichzeitig zu steuern – aufwendig, kompliziert und fehleranfällig. Die IT-Struktur war stark fragmentiert, die Kommunikation zwischen verschiedenen Behörden und Ämtern lief nicht rund.

Dann waren da die Nutzer. Nicht jeder Verwaltungsmitarbeiter war begeistert vom neuen System. LibreOffice funktionierte ein wenig anders als das gewohnte Microsoft Office, manche Fachprogramme liefen nur unter Windows. Die See wurde rauer, die Stimmung an Bord kippte. Ein besonders peinlicher Zwischenfall machte 2016 Schlagzeilen: Das E-Mail-System der Stadt brach zusammen – ausgelöst durch eine zu lange Betreffzeile in einer E-Mail. Solche Vorfälle nagen am Vertrauen wie Rost am Schiffsrumpf.

Die Free Software Foundation Europe (FSFE) warnte später davor, Open Source pauschal für die Probleme verantwortlich zu machen. Die eigentlichen Ursachen seien vielmehr schlechtes Projektmanagement, mangelnde interne Kommunikation und organisatorische Defizite gewesen. Mit anderen Worten: Nicht das Schiff war das Problem, sondern die Art, wie es gesteuert wurde.

Politische Winde drehen

2014 begann sich der politische Wind zu drehen. Die CSU, nun wieder stärker im Stadtrat vertreten, übte zunehmend Kritik an LiMux. Die Kosten seien zu hoch, die Probleme zu zahlreich, die Mitarbeiter unzufrieden. Die Forderung wurde laut: Zurück zu Microsoft!

Dann kam eine bemerkenswerte Entwicklung, die bis heute für Diskussionen sorgt: Microsoft kündigte an, seinen Deutschland-Hauptsitz von Unterschleißheim nach München zu verlegen. Reiner Zufall? Ein Mitarbeiter der Stadt wurde mit den Worten zitiert: „Es ist kein technischer Grund. Es ist Politik, und LiMux war Verhandlungsmasse.“

Ob da wirklich ein Deal im Hintergrund lief – die Stadt dementierte das – oder ob es nur unglücklicher Zufall war, bleibt im Nebel der Geschichte verborgen.
Fakt ist: Die Lobbyarbeit gegen Open Source wurde intensiver. Wie ein mächtiger Gegenstrom arbeiteten kommerzielle Interessen gegen das Projekt.

Die Kehrtwende: Rückkehr zum alten Kurs

Ende November 2017 dann der entscheidende Beschluss: Der Münchner Stadtrat stimmte mit den Stimmen von SPD und CSU für die Rückkehr zu Windows. Bis 2020 sollten alle Arbeitsplätze wieder auf Microsoft-Produkte umgestellt werden. Die Kosten? Geschätzte 89 Millionen Euro – manche Experten sprachen von noch deutlich höheren Summen.

Das war mehr als die ursprünglichen Einsparungen durch LiMux. Die Stadt investierte nun Millionen, um rückgängig zu machen, wofür sie zuvor Millionen ausgegeben hatte. Wie ein Schiff, das die halbe Welt umsegelt, nur um dann wieder in den Heimathafen zurückzukehren.

Die Open Source Community war entsetzt. München galt als Vorbild gewesen, nun wurde das Projekt zum Mahnmal – je nachdem, wen man fragte, entweder als Beispiel für gescheiterte Migration oder als Beweis für politische Einflussnahme.

Eine unerwartete Wende und zurück zu neuen Ufern?

Doch die Geschichte endet hier nicht. Im Sommer 2020, als die Migration zurück zu Windows gerade lief, formierte sich eine neue Koalition im Münchner Stadtrat: Rot-Grün. Und mit ihr kam eine erneute Kursänderung. Der Koalitionsvertrag sah eine neue Ausrichtung „zurück zu freier Software“ vor.

Plötzlich wehte der Wind wieder aus einer anderen Richtung. Die Stadt begann, ihre IT-Strategie erneut zu überdenken. Von einem sofortigen Zurück zu Linux war zwar keine Rede mehr, aber die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern sollte reduziert werden. Open Source sollte wieder eine Chance bekommen – wenn auch vorsichtiger, kleinteiliger, pragmatischer.

Was Bremen und andere Städte lernen können

Die LiMux-Geschichte ist lehrreich wie ein altes Logbuch voller Wetterbeobachtungen und navigatorischer Fehleinschätzungen. Was können andere Städte – vielleicht sogar hier im Norden, in Bremen, Hamburg oder Kiel – daraus lernen?

Erstens: Open Source ist technisch machbar. Die Probleme von LiMux waren weniger technischer als organisatorischer und politischer Natur. Mit der richtigen Planung, klarer Kommunikation und ausreichenden Ressourcen lässt sich eine solche Migration durchaus stemmen.

Zweitens: Politischer Rückhalt ist entscheidend. Wenn alle paar Jahre die politische Richtung wechselt, wird jedes IT-Projekt zum Spielball. Digitale Souveränität braucht einen langen Atem und Konsens über Parteigrenzen hinweg.

Drittens: Die Nutzer müssen mitgenommen werden. Eine aufgezwungene Migration, bei der die Mitarbeiter nicht ausreichend geschult und eingebunden werden, ist zum Scheitern verurteilt. Die beste Technik nützt nichts, wenn die Crew meutert.

Viertens: Vorsicht vor Lobbyeinflüssen. Große Software-Konzerne haben immense Ressourcen und Erfahrung darin, ihre Interessen durchzusetzen. Wer sich für Open Source entscheidet, sollte auf den Gegenwind vorbereitet sein.

Aktueller Kurs: Die Reise geht weiter

Heute, im Jahr 2025, nutzen viele europäische Verwaltungen erfolgreich Open Source. Die französische Gendarmerie Nationale fährt seit Jahren mit über 72.000 Linux-Arbeitsplätzen – ohne nennenswerte Probleme. Verschiedene spanische Regionen haben eigene Linux-Distributionen entwickelt. Und sogar in Deutschland plant Schleswig-Holstein eine landesweite Migration zu Linux und LibreOffice ab 2026.

Die digitale Landschaft hat sich verändert. Cloud-Lösungen, moderne Webanwendungen und plattformunabhängige Software machen Betriebssysteme weniger wichtig als früher. Vielleicht liegt die Zukunft nicht im Entweder-Oder, sondern in hybriden Lösungen, die das Beste aus verschiedenen Welten kombinieren.

Lehren aus stürmischer See

Die LiMux-Geschichte ist keine Erfolgsgeschichte im klassischen Sinne. Aber sie ist auch keine reine Misserfolgsgeschichte. Sie ist kompliziert, vielschichtig und menschlich – wie das Leben selbst, wie die See eben.

München hat bewiesen, dass eine große Open Source Migration technisch möglich ist. Die Stadt hat aber auch schmerzhaft erfahren, dass Technik allein nicht reicht. Politik, Organisation, Kommunikation und der Wille zum Durchhalten sind mindestens genauso wichtig.

Für uns hier in Bremen, in einer Stadt mit maritimer Tradition und hanseatischem Pragmatismus, sollte die Lehre klar sein: Wer neue Gewässer befahren will, braucht eine gute Crew, einen zuverlässigen Kompass, einen klaren Kurs – und die Bereitschaft, auch mal gegen den Wind zu segeln.

Die Reise in Richtung digitale Souveränität ist nicht einfach. Aber vielleicht ist sie notwendiger denn je. München hat vorgemacht, wie man es angeht. Und auch, welche Fehler man vermeiden sollte.

Die Segel sind gehisst, die See wartet. Die Frage ist nur: Haben wir den Mut, abzulegen?

Quellen zum Bericht

Offizielle Dokumente und Berichte

Fachmedien und Berichterstattung

Wissenschaftliche Einordnung

  • Technische Universität München – Studie zu LiMux: Wissenschaftliche Begleitforschung zum Projekt
    https://www.tum.de/
  • Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI): Empfehlungen zu Open Source in der Verwaltung
    https://www.bsi.bund.de/

Open Source Alternativen weltweit

Aktuelle Entwicklungen

Ihre Morsezeichen

Unser Funker hat immer ein offenes Ohr.
Lassen Sie eine Meldung da oder reichen Sie eine Nachricht ein. 

Die Datenschutzerklärung finden Sie hier. Klicken Sie einfach auf den Link.
Nach oben scrollen